Ein Plädoyer für das "auf den Arm nehmen" (Iris Blitz)
Als mein Hund Oskar noch ein Welpe war, habe ich einmal die Dauer eines Spazierganges unterschätzt. Für ihn war der noch viel zu lang, er war müde und überreizt und wurde allmählich quengelig. Als uns ein – durchaus freundlich wirkender – weißer Schäferhund entgegenkam, war daher eines völlig klar: Wenn er den jetzt kennen lernt und womöglich noch ein bisschen mit ihm tobt, dann kann ich hinterher gucken, wie ich einen völlig überdrehten Aussie nach Hause und zur Ruhe bringe.
Also hab ich ihn kurzerhand auf den Arm genommen.
Die Besitzerin des anderen Hundes sprach daraufhin mit einem donnernden Bühnenflüstern zu ihrer Begleitung: „Das ist das Fallscheste, was man überhaupt machen kann!“. Mit Ausrufezeichen hinter jeder einzelnen Silbe, ungelogen!
Bei einem unserer nächsten Spaziergänge war Oskar zwar ausgeruht und unternehmungslustig, der erwachsene Labrador, der wie ein D-Zug auf ihn zugedonnert kam, war ihm allerdings dennoch unheimlich. Also habe ich ihn hochgenommen. Ich habe gewartet, bis der andere Hund bei uns war und mich kurz beschnuppert hatte. Nachdem Oskar den nunmehr sehr viel ruhigeren Hund kurz beäugt hatte, fand er ihn auch nicht mehr gruselig und also habe ich ihn abgesetzt. Die beiden Hunde hatten dann auch eine nette, entspannte Begegnung.
Herrchen und ich nicht ganz so: „Das wird mal ein Angstbeißer!“ teilte der Besitzer des Labradors mir mit. Und er flüsterte nicht … eher im Gegenteil.
Das ist über zehn Jahre her, aber jedes Mal, wenn ich „auf keinen Fall hochnehmen!“ höre, muss ich an diese beiden Begebenheiten denken.
Werfen wir also noch einmal einen Blick darauf.
Beide Male handelte es sich um Situationen, die meinen Welpen in diesem Moment überfordert haben. Im ersten Fall war das auch nicht kurzfristig zu ändern, also habe ich ihn komplett herausgenommen. Im zweiten habe ich dafür gesorgt, dass die Situation für ihn überschaubarer wurde und er sie dann problemlos bewältigen konnte.
Potentiell beängstigende Dinge durfte Oskar immer von der Sicherheit meines Armes aus in Augenschein nehmen, bevor er sich eigenständig damit auseinandersetzte. Jedenfalls, solange ich ihn einigermaßen bequem tragen konnte.
Angst hat er dadurch nicht bekommen, im Gegenteil. Er hat in Momenten wie diesen eine der wichtigsten Lektionen des ganzen Hundelebens gelernt: „Mein Mensch bietet mir Schutz!“. Den sucht er noch heute gerne auf, wenn ihn etwas verunsichert, allerdings genügt es ihm mittlerweile, hinter mir in Deckung zu gehen.
Ja, na klar, er war damals ein Welpe!
Aber was genau spricht eigentlich – abgesehen vom Gewicht – dagegen, einen erwachsenen Hund auf den Arm zu nehmen?
Gerade diejenigen Hunde, bei denen das auch im Erwachsenenalter problemlos möglich ist, haben ja oft ganz ähnliche Schwierigkeiten, wie Welpen auch: Alles um sie herum ist im Vergleich zu ihnen selbst riesig. Körperlich sind sie großen Hunden hoffnungslos unterlegen. Und selbst wenn der andere Hund es gar nicht böse meint, tragen sie schnell Verletzungen davon.
Das hat genau nichts mit einer Verzärtelung von Schoßhunden zu tun: Wenn ich im Dunkeln über einen unserer Patous stolpere, falle ich auf die Nase und kann anschließend meine Rippen abtasten. Übersehe ich einen Chihuahua, fliegt er und ich taste seine Rippen ab.
Ich bin durchaus und absolut dafür, dass Hunde sehr unterschiedlicher Rassen und Körpergrößen lernen, miteinander umzugehen, zu kommunizieren und – wenn ihnen das Freude macht – auch zu spielen. Aber sie müssen es tatsächlich lernen, und Lernen kann nicht funktionieren, wenn einer von beiden von vornherein mit der Situation überfordert ist.
Wenn es um das Training mit Hunden geht, die mit Angst und/oder Aggression auf etwas reagieren, hört man regelmäßig „Distanz zum Auslöser!“: Der Hund soll nur soweit an den Auslöser des Angst- bzw. Aggressionsverhaltens herangeführt werden, dass er diesen noch ertragen kann.
Und von solchen Menschen, deren Hund ein Problem mit Artgenossen hat, kommt ebenso regelmäßig die Klage, man könne nicht immer ausweichen: Der andere komme trotz Bitten immer näher, der Fußweg sei zu schmal etc..
Mit einem kleinen Hund eröffnet sich hier schlicht eine neue Dimension: Ich kann nicht nur in der Horizontalen ausweichen, sondern auch in der Vertikalen. Und nicht nur das: Ich biete meinem Hund einen Rückzugsort, den er als sicheren Ort kennt.
Immer vorausgesetzt natürlich, dass mein Hund das Hochnehmen nicht als solches schon unangenehm findet und darüber hinaus eine Chance hatte, meinen Arm tatsächlich als sicheren Ort zu erfahren. Wird er dort zum Beispiel von anderen Menschen getätschelt, obwohl er das nicht schätzt, wird er sich schwerlich darauf verlassen.
Auch beim Ausweichen in der Horizontalen hört man dann oft das Argument, damit werde die Angst des Hundes bestätigt. Und das wäre sogar zutreffend, wenn ich panisch einen Satz zur Seite machen würde. Tue ich aber gar nicht. Ich laufe ganz gelassen einen Bogen.
Und natürlich reiße ich meinen Hund auch nicht panisch nach oben, sondern nehme ihn – idealerweise mit Ankündigung – frühzeitig ruhig und gelassen auf den Arm.
Auf den Arm nehmen bedeutet übrigens genau das: Bitte einen Hund auf gar keinen Fall einfach am Geschirr hochziehen!
Stattdessen bitte auch bei kleinen Hunden beide Hände nutzen, um Brustkorb und Po zu stabilisieren und das Ganze ggf. vorher in Ruhe zu Hause üben: Nicht jeder Hund weiß das Hochheben nämlich spontan zu schätzen.
Und nein, selbstverständlich tue ich das nicht jedes Mal, wenn ein anderer Hund am Horizont erscheint. Ebenso wie bei meinem Welpen, entscheide ich in jedem einzelnen Fall auf's Neue, ob mein Hund die Situation allein, oder mit wenig Hilfestellung bewältigen wird, oder ob ich – so oder so – für die nötige Distanz sorge.
Da unsere Hunde ihre Artgenossen in aller Regel sehr viel besser „lesen“ können als wir und darüber hinaus auch besser wissen, wieviel sie sich gerade selber zutrauen, ist es sinnvoll, sich auf ein Signal zu verständigen, mit dem der Hund selbst darum bitten kann, hochgenommen zu werden, wenn er das möchte.
Aber irgendwann mal muss er sich doch mit seiner Angst auseinandersetzen!
Idealerweise findet eine solche Auseinandersetzung dann statt, wenn das Gehirn die nötigen Kapazitäten frei hat – die Angst darf also spürbar, sollte aber nicht überwältigend sein. Das funktioniert aus der Distanz (oder eben aus einer sicheren Warte) sehr viel besser, als in der direkten Konfrontation.
Pinschermix Ollie zum Beispiel, den ich eine Zeit lang in Pflege hatte, fürchtete sich vor fahrenden Autos, besonders schlimm waren Busse und Lkw. Ca. 300 Meter unserer üblichen Gassirunde führten aber nun einmal an einer Straße entlang, die während des Berufsverkehrs stark befahren war.
Zu Anfang habe ich ihn immer getragen. Dann nur noch, wenn der Verkehr dicht war. Wenig später nur dann, wenn ein Lkw in Sicht kam … Mit jedem Mal hat der kleine Kerl (der zum Tragen ruhig noch ein bisschen kleiner hätte sein dürfen) sich mehr darauf verlassen, dass ich ihn „rette“, wenn es zu arg würde. Und so wurde er immer mutiger.
Geht es um das Hochnehmen bei Hundebegegnungen, wird darüber hinaus regelmäßig auf die Verletzungsgefahr hingewiesen.
Wenn eine Auseinandersetzung bereits in vollem Gange ist, ist es in der Tat nicht ungefährlich, einen der Kontrahenten einfach zu packen und wegzunehmen. Ganz egal, in welche Richtung übrigens. Genau das ist hier aber auch nicht gemeint.
Ich warte nicht, bis es zu einer Konfrontation kommt, sondern, wenn ich absehen kann, dass mein Hund mit einer Begegnung überfordert sein wird, nehme ich ihn frühzeitig ruhig und gelassen auf den Arm.
Zusätzlich wende ich mich ab und/oder laufe einen Bogen. Dabei achte ich ggf. darauf, dass die Rute meines Hundes nicht verführerisch vor der Nase des anderen baumelt, sondern nehme diese ebenfalls hoch.
Tatsache ist, ich muß damit rechnen, dass der andere Hund – sei das nun in freundlicher oder unfreundlicher Absicht – an mir hochspringt und sollte daher darauf achten, stabil zu stehen.
Und es ist nicht auszuschließen, dass er seiner Frustration auch dadurch Ausdruck verleiht, dass er mich beißt. Ich schreibe bewußt „beißen“, weil ich nicht beschönigend und verharmlosend „zwicken“ schreiben möchte. Auch ein Zwicken tut weh und ist weder schön noch harmlos. Allerdings steckt hinter einem solchen Beißen aus Frustration keine ernsthafte Verletzungsabsicht.
Abhilfe kann hier eine Handvoll Futter schaffen, die ich auf den Boden werfe um so ein attraktives Alternativverhalten anzubieten.
Obwohl die allermeisten Hunde größere Hemmungen haben, einen Menschen zu beißen, als einen anderen Hund, kommt es vor, dass Menschen, die ihren Hund schützend auf den Arm genommen haben, selbst Bißverletzungen davontragen.
In diesen Fällen ist allerdings (anders als beim Beißen aus Frustration) davon auszugehen, dass es so oder so zu Bissen mit Beschädigungsabsicht gekommen wäre – unabhängig vom Handeln des Menschen.
Der worst case (den ungünstigsten Fall) unter den Hundebegegnungen also. Das kann tatsächlich passieren!
In den allermeisten Situationen unseres Lebens ist uns bewusst, dass es einen worst case zwar gibt, dieser aber nur äußerst selten eintritt – Autofahren ist da ein gutes Beispiel: Wir wissen um die Zahl der Unfalltoten und verhalten uns (hoffentlich!) entsprechend vorsichtig, aber wir sind nicht überzeugt davon, sofort in einen Unfall verwickelt zu werden, sobald wir mit dem Auto fahren.
Genau das sollte uns auch bei Begegnungen unter Hunden bewusst sein: Die Mehrzahl verläuft unspektakulär und Verletzungen sind die Ausnahme, nicht die Regel.
Warum es – wie man regelmäßig hört – trotzdem! besser sein soll, sich vor den eigenen Hund zu stellen und den anderen zu blocken oder zu verjagen, will mir ehrlich gesagt nicht recht einleuchten. Von unseren Hunden wünschen wir uns gelassenes und deeskalierendes Verhalten. Welcher Vorteil läge darin, ihnen vorzuleben, dass wir selbst es anders machen?
Einen heranpreschenden Tutnix mit einem einzigen Blick oder – wenn denn unbedingt nötig – mit einer bedrohlichen Körperhaltung zu stoppen, während der eigene Hund sich im Hintergrund entspannt zurücklehnt, ist ganz großes Kino, keine Frage!
„Ich stelle mich vor meinen Hund und schlage den anderen in die Flucht!“ heißt aber, wenn man mal auf die Feinheiten achtet, nicht unbedingt „das habe ich schon mehrmals erfolgreich getan“, es kann ebenso gut „ich würde das tun“ bedeuten.
Und Geschichten mit alternativem Handlungsverlauf wie zum Beispiel „und dann ist mein Hund an mir vor vorbeigeschossen und hat seinerseits attackiert“,
„und dann ist der einfach um mich herum zu meinem Hund gerannt“, oder womöglich
„ich war so erschrocken, dass ich gar nicht reagieren konnte“ werden tendenziell nicht an die große Glocke gehängt.
Das Bild, das sich uns aus Erzählungen anderer Hundehalter darzustellen scheint, ist also stark verzerrt.
Möglicherweise liefert sich der best case der souveränen Verteidigung des eigenen Hundes, wenn es um die Wahrscheinlichkeit seines Eintretens geht, ein Kopf an Kopf Rennen mit der worst-Variante. Eine entsprechende Statistik gibt es nicht.
Letzten Endes ist es eine ganz persönliche, situative Entscheidung, wie wir unseren Hund davor schützen, belästigt oder gar attackiert zu werden. Wir müssen tun, was in genau dieser Situation passend und machbar ist. „Ich nehm ihn auf den Arm!“ gehört einfach zu den Optionen, die wir dabei in Erwägung ziehen sollten.
Iris Blitz
|